Interview mit...
...Tom Rachman
So nett wie
geahnt: Tom Rachman auch!
"In Momenten der Anspannung und des Drucks zeigt man, welche Art von Mensch man ist."
Mit Booksection im Gespräch: Roman-Autor Tom Rachman über "Die Unperfekten".
Booksection.de: Nach Ihrem Studium haben Sie als Journalist
gearbeitet. Hatten Sie schon immer den Wunsch einen Roman zu schreiben oder
ist dieser Wunsch mit der Zeit entstanden?
Tom Rachman: Nein, das war etwas, was ich schon immer tun wollte.
Ich bin zum Journalist geworden mit dem Ziel, Autor zu werden und ich hoffte,
dass der Journalismus mir die Möglichkeit geben würde, die Welt zu
sehen und interessante Menschen kennen zu lernen und dass mir das vielleicht
eine Inspiration für Geschichten liefern würde. Es war also schon
immer mein Traum und wenn ich „immer“ sage, meine ich so ab Anfang
20, wobei ich davor wiederum eigentlich Filmemacher werden wollte. Doch während
ich an der Universität in Toronto Filmwissenschaften studierte, änderte
ich meine Meinung dahingehend, dass ich doch lieber schreiben wollte.
Booksection.de: War es nahe liegend, dass Sie über ein
Metier schreiben, das Sie selbst sehr gut kennen?
Tom Rachman: Ich hatte zuerst die Charaktere und die Geschichte
selbst im Kopf, bevor ich über den Schauplatz nachdachte. Und dann kam
mir die Idee, dass der Journalismus und ein Nachrichtenraum ein passender Ort
sein könnte, um alles zusammen zu bringen. Und das war dann natürlich
ein Schauplatz, den ich von meiner Arbeit her gut kannte, sodass ich darüber
präzise schreiben konnte und von dem ich hoffte, dass er auch für
die Leser, die nicht in dieser Branche arbeiten, fesselnd genug sein könnte.
Die Protagonisten und die Geschichte waren mir am wichtigsten, aber ich wollte
durch die Auswahl dieses Schauplatzes ein anderes Element hinzufügen.
Booksection.de: Würden Sie sagen, dass Ihre Charaktere
als eine Art Botschafter einer bestimmten Botschaft dienen oder sind sie schlicht
und einfach typische „Zeitungsmenschen“?
Tom Rachman: Also ich denke, wenn sie eine bestimmte Botschaft
hätten, so wäre diese sehr verwirrend, denn sie geht in viele verschiedene
Richtungen und es gibt keine „Einzelbotschaft“, die ich damit vermitteln
wollte. Ich würde keine Bücher schreiben wollen, die einen bestimmten
Blickwinkel oder etwas in der Art „predigen“. Was ich als Leser
an Fiktion mag, ist, dass eine Geschichte, die ihre eigene Vielfalt hat, viel
reizvoller und faszinierender ist als eine, die sagt, dass irgendwas so und
so und nicht anders ist. Das sollte so komplex sein wie jeder Aspekt eines Menschen
oder eines Menschenlebens.
Booksection.de: Es scheint so, dass jeder der Protagonisten
an einem Wendepunkt steht, der ihn oder sie dann aber auch weiterbringt. Ist
das ein Punkt, der Sie sehr fasziniert?
Tom Rachman: Ich denke, Geschichten sind teilweise deswegen
so, weil es eben nur „Geschichtenerzählen“ ist. Es ist nicht
das richtige Leben. Die Geschichten haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende
und man strukturiert das so, dass alles zusammen passt und das erfasst das Leben
zwar, aber in einem unwirklichen Rahmen. Auch Ihr Leben und mein Leben werden
nach diesem Interview weitergehen, während das Interview selbst beispielsweise
gerade die Geschichte war. Somit ist der Hauptpunkt der, dass man diese Geschichte
einfach einer Struktur unterwirft. Natürlich ist es in jedem Leben so,
dass es bestimmte Phasen der Anspannung gibt und Tage und Wochen oder gar ganze
Zeitspannen, die besonders anstrengend, erfolgreich, wunderbar oder schwierig
sind. Und es sind diese Momente, in denen man sich oftmals definiert. In diesen
Momenten der Anspannung und des Drucks zeigt man, welche Art von Mensch man
ist und man lernt, welche Fähigkeiten und Defizite man hat. Und deswegen
denke ich, dass solche Figuren für Geschichten sehr gut funktionieren und
– auch für mich – sehr fesselnd sind.
Booksection.de: Jeder Mensch in Ihrem Buch hat eine sehr
emotionale Geschichte. Wie schwierig ist es für Sie, sich von diesem emotionalen
Schreibprozess abzugrenzen?
Tom Rachman: Ich finde, dass es gerade wichtig ist, sich nicht
abzugrenzen, sondern gefühlsbetont zu sein. Ich habe gemerkt, dass es nicht
funktioniert, wenn ich beim Schreiben denke, dass ich mich jetzt gerade so oder
so fühlen will. Aber, wenn sich diese Gefühle beim Schreiben entwickeln,
dann ist das gut. Natürlich muss man sich dabei schon ein bisschen zusammen
reißen, ich schreibe ja und dann sollte ich nicht unbedingt anfangen zu
weinen und meine Finger nass werden (lacht). Auf der einen Seite sollte man
als Autor diese Gefühle haben, sie aber andererseits in eine Geschichte
kanalisieren, die der Autor sich ja nur ausgedacht hat. Wenn der Schreibprozess
mit solcher Intensität angefüllt ist und wenn man dann nicht nur einfach
denkt, dass eine Person traurig ist, sondern es wirklich fühlt, dann kann
man mit den Figuren kommunizieren.
Booksection.de: Möchten Sie mit jedem Charakter spezielle
Gefühle transportieren oder wollten Sie das eher mischen?
Tom Rachman: Ich wollte nicht einen bestimmten Charakter mit
einem bestimmten Gefühl verbinden. Ich wollte, dass sie zwar eine bestimmte
Tendenz, aber dennoch eine Vielfalt an Gefühlen, abhängig von der
jeweiligen Situation, hatten. So wie es im Leben tatsächlich ist.
Booksection.de: Denken Sie, dass Sie die Gefühle der
Leser beim Schreiben beeinflussen können?
Tom Rachman: Nein. Man hofft zwar, dass der Leser ein bisschen
von dem fühlt, was man als Autor fühlt oder denkt und in dieser Hinsicht
kann man dann eine Ahnung davon haben, was der Leser denken mag, aber wirklich
wissen kann man das nicht. Und wenn man versuchen würde, das zu tun, würde
man eine ziemlich manipulative und kalkulierende Geschichte schreiben, was nicht
wirklich funktionieren würde. Wenn man jemanden trifft, der versucht einen
zu manipulieren, geht das vielleicht, aber es hätte etwas Künstliches
an sich. So ist man sich dieses Einflusses zwar bewusst, aber „den Knopf
wirklich drücken“ will man nicht.
Booksection.de: Dieses Buch ist Ihr Debüt. Wie lange
brauchten Sie, um es fertig zu stellen?
Tom Rachman: So zwei bis zweieinhalb Jahre. Ich habe während
der Zeit aber auch andere Dinge gemacht.
Booksection.de: Schlussendlich wird in Ihrem Buch die Produktion
der Zeitung eingestellt. Denken Sie, dass das früher oder später mit
allen Zeitungen passieren wird?
Tom Rachman: Ich glaube, dass viele Zeitungen ernsthafte Schwierigkeiten
haben und viele haben schon aufgehört und manche werden das noch tun. Viele
wiederum werden überleben, aber auf eine andere Art und Weise, also nicht
unbedingt als reine Zeitung oder nicht so, wie wir sie heute kennen. Jetzt schon
versuchen viele, ihre Leser auf andere Formate umzustellen. Da hat sich zwar
schon etwas getan, vieles hat aber aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert.
Ich glaube schon, dass die Zeitung weiterhin bestehen bleibt und ein gutes Medium
ist, aber die klassische Berichterstattung wird sich auf andere Technologien
verschieben, während andere Teile weiterhin dem Papier überlassen
bleiben wird. Ich denke, dass sehr umfangreiche Artikel einfach auf Papier besser
zu lesen sind, während kurze Berichte und solche, die permanent auf den
neuesten Stand gebracht werden müssen, der Bequemlichkeit halber eher auf
dem Bildschirm gelesen werden. Anderseits ist es natürlich schwierig zu
sagen, wie die Technologie der Zukunft aussehen wird. Die Zeitung wird aber
wohl kaum das bleiben, was sie jetzt ist.
Booksection.de: Also denken Sie nicht, dass die Zeitung komplett
vom Internet ersetzt wird, sondern dass sie überleben wird?
Tom Rachman: Das ist genau die Frage. Ich glaube schon, dass
ein paar Zeitungen überleben werden, aber es könnte sein, dass das,
was darauf veröffentlicht wird, sich stark von dem unterscheidet, was wir
jetzt in einer Zeitung lesen. Es ist natürlich einfach zu beurteilen, was
sich von der Vergangenheit bis heute geändert hat und dass sich die Dinge
weiterhin radikal ändern werden, aber zu wissen, was in der Zukunft sein
wird? Dafür ändert sich die Technologie viel zu schnell.
Booksection.de: In diesem Zusammenhang: Denken Sie, dass das
Buch früher oder später vom e-book verdrängt werden wird?
Tom Rachman: Darauf würde ich dasselbe sagen. Nehmen wir
zum Beispiel das iPad. Vor einem Jahr gab es das noch nicht einmal und jetzt
empfinden wir es so, als wäre es schon immer da gewesen. Und nächstes
Jahr wird es etwas anderes geben und in fünf oder zehn Jahren gibt es sicherlich
Dinge, die wir uns heute überhaupt nicht vorstellen können. Für
mich persönlich sind Bücher und Zeitungen Technologien, die ich sehr
liebe und ich wäre sehr frustriert, wenn es sie nicht mehr gäbe. Ich
denke, ein Unterschied zwischen Büchern und Zeitungen ist der, dass man
Zeitungen konsumiert und nach dem Lesen wegwirft, während Bücher nahezu
Möbelstücke sind, die man als Buchliebhaber wirklich verehrt. Bei
mir zu Hause liegen Stapel von Büchern und wenn ich herumgehe sehe ich
sie, blättere manchmal darin herum und denke daran, was sie mir bedeutet
haben beim Lesen und was sie für mich transportiert haben und was sie gekostet
haben, wo ich sie gekauft habe und so weiter. So viele Dinge, mit denen man
die eigene intellektuelle Geschichte und das Leben und die Erinnerungen verbindet.
Und wenn das alles nur auf einem flachen Bildschirm zu sehen wäre, was
für ein Verlust wäre das.
Booksection.de: In der Zwischenzeit wurde Ihr Buch in mehreren
Ländern veröffentlicht. Reagieren die Leser aus den verschiedenen
Ländern unterschiedlich?
Tom Rachman: Nicht auf eine Art, die ich bis jetzt wirklich
bemerkt hätte. Das kann aber daran liegen, dass ich selbst nicht den Reaktionen
in allen Ländern direkt ausgesetzt war. Das Buch ist in 20 Auflagen vorhanden,
wovon aber bisher nur sechs veröffentlicht wurden und dies hauptsächlich
in englischsprachigen Ländern wie England, Australien und Amerika. Beispielsweise
in Amerika war ich seit der Veröffentlichung gar nicht mehr und ich denke,
dass viele Reaktionen erst später – beispielsweise bei Signierstunden
– kommen. Dann werden die Menschen sicherlich auf mich zukommen und mir
sagen, dass sie es nicht leiden konnten (lacht). Also bisher konnte ich keine
Hauptunterschiede in den Reaktionen feststellen.
Booksection.de: Ihr Buch wurde in den englischsprachigen Ländern
ja ein großer Erfolg. Fühlen Sie aufgrund dessen einen besonderen
Druck, wenn Sie Ihr neues Buch schreiben?
Tom Rachman: Das kann man auf zweierlei Art betrachten. Auf
der einen Seite könnte ich viel Druck empfinden oder aber ich könnte
einfach froh darüber sein, dass ich überhaupt schon ein Buch veröffentlichen
durfte und dass ich jetzt schon weiß, dass ein zweites folgen wird. Ich
finde, dass es so viele talentierte und fähige Autoren gibt, deren Bücher
nie gelesen oder geschweige denn veröffentlicht werden und darum kämpfen,
dass dem so sein könnte oder solche, deren Buch zwar veröffentlicht
wird, die dann aber Pech haben. Das ist wirklich ungerecht und niemand wird
diese Bücher je lesen. Auch wird dieser Autor niemals die Möglichkeit
haben, ein zweites Buch herauszubringen. Ich persönlich bin in einer außergewöhnlich
glücklichen Position. Und wenn ich dann in dieser Position denken würde
„Oh, was für ein wahnsinniger Druck!“ so wäre das einfach
nur erfolgshungrig. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass ich extremes
Glück habe. Ich hoffe, dass die Menschen mein zweites Buch mögen werden
und wenn nicht, werde ich eben Barkeeper (lacht).
Booksection.de: Haben Sie Vorbilder für Ihre Arbeit als
Autor?
Tom Rachman: Ja, es gibt viele, die ich verehre und liebe und
die mich sehr berührt und auch meinen Schreibstil beeinflusst haben. Aber
natürlich kann ich nicht so schreiben wie sie, das ist einfach nicht möglich.
Autoren wie Tschechow, Tolstoi oder aus dem 20. Jahrhundert Autoren wie Virginia
Wolf oder George Orwell und moderne wie William Boyd oder Graham Greene. Ja,
da gibt es viele, die ich sehr liebe, aber wie ich schon sagte, es ist nicht
möglich zu schreiben wie sie. Wie sollte ich beispielsweise etwas schreiben,
das im Polen des 19ten Jahrhunderts entstanden sein könnte? Welch ein seltsames
Buch wäre das (lacht)? Die Zeit und die Umstände, die beim Schreiben
des Buches herrschten, beeinflussen es derart, dass man von anderen Autoren
höchstenfalls inspiriert werden kann.
Booksection.de: Müssen Sie persönlich in der Umgebung
leben, von der Sie schreiben? Auf Ihrer Homepage habe ich gelesen, dass sie
derzeit in Rom leben...
Tom Rachman: Nein, da lebe ich nicht mehr. Steht das da wirklich
noch? Dann muss ich das unbedingt ändern (lacht). Nein, ich lebe seit April
in London. Das Buch geschrieben habe ich wiederum in Paris. Im Gegenteil, ich
finde es einfacher, über eine Stadt zu schreiben, in der ich nicht mehr
lebe. Wenn ich dort noch lebe, ist das zu präsent. Genauso wenig kann ich
über eine Person schreiben, die ich kenne. Wenn Sie beispielsweise in Frankfurt
leben und dort täglich mit dem Bus fahren, den Zeitungsstand und den Verkäufer
kennen und all diese kleinen Dinge, die einen aufregen und so weiter, dann ist
das eine unüberschaubare Menge von Realität. Wenn Sie dann aber beispielsweise
nach Berlin ziehen, verliert sich das meiste davon und es wird zu einem Objekt,
über das man schreiben kann.
Booksection.de: Wir hatten den Eindruck, dass Sie gestern
bei Ihrem interview am Stand der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ziemlich erstaunt
waren über die vielen Menschen und den ganzen Rummel, der um Sie gemacht
wird.
Tom Rachman: (lacht) Ja, das stimmt schon ein bisschen. Haben
Sie das riesige Plakat gesehen? Ich habe wirklich einen Schreck bekommen und
dachte „Ach du meine Güte, das ist ja Wahnsinn“. Das erstaunt
mich alles schon, aber auf der anderen Seite ist es ja sehr gut so und ich bin
froh darüber.
Booksection.de: Vielen Dank für das Interview, Herr
Rachman.
Tom Rachman: Ich danke Ihnen auch.
Das Interview wurde am 07.10.2010 durch Melanie Frommholz geführt und von Angelika Koch übersetzt. Veröffentlicht und freigegeben vom Autor am 14.10.2010