
Buchkritik von Stefanie Rufle
Gin Philipps erzählt ihren Thriller „Nachtwild“ in Echtzeit, die Handlung umfasst insgesamt nur knapp drei Stunden. Das hat zur Folge, dass die Geschichte innerhalb kürzester Zeit ein gewaltiges Tempo aufnimmt, das sich immer noch weiter steigert und dem Leser komplett den Atem raubt. Dabei ist die Handlung weder sonderlich komplex, noch wartet sie mit facettenreichen Figuren oder der Frage nach dem Warum einer Tat auf. Dadurch wirkt dieser Thriller hin und wieder etwas eindimensional, wartet man doch vergebens auf einen raffinierten Twist oder eine spektakuläre Aufklärung der Ereignisse. Dennoch übt „Nachtwild“ eine unglaubliche Faszination auf den Leser aus, weil es Phillips gelingt, den Zoo, in dem Joan und Lincoln sich befinden, sofort vor dem geistigen Auge lebendig werden zu lassen. Unwillkürlich sieht man Bilder des Zoos vor sich, den man selbst als Kind oft besucht hat, ahnt die dunklen Schatten, die überall zu lauern scheinen und spürt die bedrohliche Atmosphäre in jeder Pore.
„Nachtwild“ befasst sich mit der Frage, wie weit eine Mutter gehen würde, um ihr Kind zu beschützen, welche Eigenschaften eine solche Extremsituation bei einem scheinbar ganz normalen Durchschnittsmenschen zutage befördern kann. Der moralische Konflikt, in dem Joan sich während dieser drei Stunden befindet, wird direkt zum Leser transportiert, stellt man sich doch selbst auch die Frage, ob man fähig wäre, das Wohl eines geliebten Menschen über das aller anderen zu stellen. Diese tiefere Dimension verleiht diesem Thriller eine besondere Faszination, der man sich nur schwer entziehen kann. „Nachtwild“ ist ein atemberaubend spannender Thriller, der vor allem mit seiner besonderen Atmosphäre und einer getriebenen und über sämtliche Grenzen hinauswachsenden Protagonistin zu überzeugen weiß.